12E2. Chronologie, Bereich "Phrenologie"
Carl Huter schreibt in "Welt- und Menschenkenntnis",
V. Lehrbrief, 4. Lektion
Die Phrenologie oder Kopfformenkunde
"Wir sehen hieran wieder, die Gallsche Lehre, dass ausschliesslich das Gehirn Wesensausdruck des Geistes sei, muss bei aller bestrickenden Beweisführung mit einer gewissen Reserve und einer objektiv strengen Nachprüfung behandelt werden. Diese Nachprüfung haben nun Spurzheim, Combe, Noël Scheve in sachlicher Weise vollzogen und kommen zu gleichen oder ähnlichen Resultaten wie Gall. Man muss den tiefen Ernst und ausdauernden Fleiss dieser Männer, mit dem sie zu Werke gingen, unbedingt schätzen, wenn man sich mit ihren persönlichen Arbeiten auch nur einige Zeit beschäftigt hat.
Die Phrenologie ist und bleibt eine wesentliche Ergänzung der von Lessing, Lavater und allen grossen Bildwerkforschern in Natur und Kunst gefundenen allgemeinen Körperformen-Offenbarungen, wie sie die Physiognomik zu deuten versucht.
Genau genommen ist die Phrenologie in ihren verschiedenen Elementen Gehirnanatomie, Gehirnphysiologie, Schädelformenlehre, endlich Kopfphysiognomik und damit Formen-Psycho-Physiologie.
Das Verdienst der Phrenologie ist aber unzweifelhaft die ganz präzise Feststellung, dass die verschiedenen Organe oder Oberflächenteile des Gehirns für verschiedene, ganz bestimmte geistige Grundrichtungen tätig sind. Interessant ist hierbei, dass auch durch die Phrenologie, genauso wie durch die Physiognomik, das von mir gefundene psycho-physiognomische Grundgesetz bestätigt wird, dass der Geist in der Peripherie der Körperformen am vollendetsten zum Ausdruck kommt. Die Phrenologie lehrt: "In der Peripherie des Gehirns und analog der des Schädels lässt sich der Geist in seinen Grundanlagen erkennen." An Lavaters "Physiognomischen Fragmenten" setzte Gall die beste Kritik an, indem er nachwies, dass die einzelnen spezifischen seelischen Grundkräfte nicht in allen Körperteilen, sondern in ganz bestimmten Körperorganen, wenn auch differenziert, wirken.
Dieses Unvollkommene in Lavaters Werken hat Gall mit grösstem Eifer zu vervollkommnen und zu ergänzen gesucht durch den Nachweis, dass im Gehirn der Sitz der unterschiedlichen geistigen Funktionen in jeweils bestimmten Hirnteilen ist, von wo aus der übrige Körper beeinflusst und geleitet wird. Gall kam von seiner Kritik zur selbstschöpferischen Tätigkeit, aber er ging zu weit, indem er nun dem Gehirn alle geistige Bedeutung, dem übrigen Körper sehr wenig oder gar keine beilegte. Er suchte mit seiner Phrenologie die Physiognomik zu stürzen, statt sie zu bereichern und zu ergänzen. Hierin liegt nun der Hauptfehler, an dem die Phrenologie noch heute krankt, wodurch sie nicht nur bei den Anhängern der Physiognomik, sondern auch bei den meisten Anatomen und Physiologen und schliesslich auch bei den grossen Malern und Plastikern unbedingt auf berechtigten Widerstand stiess. Gall wollte mit seiner Lehre weit mehr original erscheinen, als sie es verträgt, er wollte mit ihr unbedingt herrschend werden, und daher glaubte er, die Resultate der Körperformenkunde von Lessing und Lavater ignorieren zu können. Dieses ist die starke moralische Schwäche bei ihm, eine Schwäche, die ich aber nicht allein bei diesem, sondern bei vielen anderen hervorragenden Forschern noch nachweisen werde. Selbst Lessing ist nicht ganz frei von Eifersucht auf Winckelmann gewesen, und Lavater hat wiederum Lessings Arbeiten zu viel verschwiegen, jedoch hat er Winckelmann ungeteilten Beifall gespendet.
Wiederum hat Lessing viel zu wenig Lavater öffentlich anerkannt, und doch wäre gerade er wohl am ehesten dazu verpflichtet gewesen, da er das beste Verständnis seiner Zeit für Physiognomik besass und diese in seiner Dramaturgie auch gut verwendet hat. Lessing ist überhaupt nur klassisch geworden, weil er durch die Physiognomik so vortrefflich psychologisch geschult wurde.
Während Gall seine erste Schrift "Philosophische und medizinische Untersuchung über Kunst und Natur im kranken und gesunden Zustande des Menschen" (1) im Jahre 1792 herausgab, erschien sein bedeutendstes Werk, worin er die Phrenologie begründete, erst in den Jahren 1810 bis 1820.
Ich hielt es für sehr wichtig, einiges hier nochmals kurz zu sagen und die Daten der Herausgabe der Werke dieser sich ergänzenden Forscher genau anzugehen, um den Zusammenhang der Anregungen, die der eine von dem anderen erhielt, was er Positives leistete und worin er fehlte, jedermann scharf und deutlich vor Augen zu führen. Nur dadurch ersieht man den Zusammenhang der Entwicklung aller Vorarbeiten für das Nachfolgende."
(1) "Man sieht hieran, dass Gall sich zuerst in der Physiognomik versuchte, als er hier keine Lorbeeren finden konnte und gegen Lavaters Weltruhm unscheinbar blieb, ignorierte er diese Lehre und holte sich in der Gehirnfunktionserforschung seine Ehren."